

„Kinder müssen einen Raum zum Verarbeiten haben, wie zum Beispiel bei Farbe“, sagt Karl-Otto Zentel, Generalsekretär von CARE Deutschland. 5,5 Millionen Kinder in der Ukraine brauchen dringend Hilfe. Zentel reiste dieses Jahr mehrfach in die Ukraine, um sich vor Ort ein Bild davon zu machen, wie CARE mit lokalen Partnern Nothilfe leistet, hier in einem Frauen- und Kinderheim in Lemberg. -Fotos: Sarah Ostern/CARE
Millionen Menschen in der Ukraine stehen vor den Scherben ihrer Existenz. Der Winter verschlechtert die Situation während des Krieges dramatisch. Generalsekretär Karl-Otto Zentel erklärt, was Kinder in der Ukraine jetzt brauchen und wie die Hilfsorganisation CARE sie unterstützt.
Herr Zentel, wie beurteilen Sie derzeit die humanitäre Situation in der Ukraine? Wie viele brauchen Nothilfe – und wie viele Kinder sind betroffen?
Karl-Otto Zentel: In der Ukraine sind 6,7 Millionen Menschen auf der Flucht, von Ost nach West. Insgesamt 17,7 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter 5,5 Millionen Kinder. Das sind Zahlen der UNO.
Wahnsinnig viele…
Zentilen: Das ist enorm, auch gemessen an der Gesamtbevölkerung von fast 44 Millionen. Sehr viele Menschen in der Ukraine sind mittlerweile auf Unterstützung angewiesen. Das ist eine großartige Leistung der Ukrainer, die viele ihrer Landsleute aufgenommen haben. Aber hier stellt sich natürlich die Frage: Was ist die Perspektive? Wohnraum ist knapp, Arbeitsplätze teilweise nicht vorhanden. Es braucht Unterstützung.
Gleichzeitig haben wir aber auch Gebiete, um die noch gekämpft wird, und Frontlinien, die sich verschieben. Wir haben dort große Zerstörung. Richtig bewusst wurde es mir, als ich dieses Jahr zum ersten Mal in der Ukraine war. Es war im April, kurz nach der Befreiung der Gebiete nördlich von Kiew. Dort leben Menschen, die aufgrund von Behinderung, Alter oder Krankheit einer solchen Situation nicht entkommen können, sondern einfach aushalten müssen und besonders betroffen sind. Wir haben auch Krebspatienten, HIV-Patienten, denen Medikamente und Lebensmittel fehlen. Grundlegende humanitäre Hilfe ist sehr dringend.
“Die Leute müssen sich erst beruhigen”
Sie waren seit Kriegsausbruch bereits zweimal in der Ukraine. Was haben Sie von diesen Besuchen für Ihre tägliche Arbeit mitgenommen?
Zentilen: Die Reisen gingen in den Westen des Landes, zuerst nach Lemberg und dann nach Kiew. Das hat mir auch gezeigt, wie unterschiedlich die Bedürfnisse waren bzw. aktuell sind. Im Westen gibt es sehr, sehr viele Flüchtlinge, die dort in Ausbildungszentren, Stadien, aber auch in Betrieben eine Unterkunft gefunden haben. Diese Menschen mussten das Erlebte erst verarbeiten. In der ersten Welle gab es noch viele Menschen, die direkt aus Mariupol kamen, die kaum über die Geschehnisse sprechen konnten, die tief traumatisiert waren. Eine Frau erzählte mir, dass sie ein Visum für England beantragt hat, obwohl sie ohne Visum in die EU reisen könnte, nur um so weit wie möglich von dem Ort wegzukommen, an dem sie so viele Schmerzen erlebt hat. Sie sehen, dass die Menschen erst einmal zur Ruhe kommen müssen und dann Unterstützungsangebote brauchen.
In Kiew hingegen war die Stadt im April leer, die Straßen leer, die Geschäfte geschlossen und nur wenige Restaurants geöffnet. Es gab eine Zeit, in der es eine tägliche Wettervorhersage gab. Vorstädte wie Bucha wurden massiv zerstört, die Menschen lebten unter miserablen Bedingungen und brauchten Trinkwasser und Nahrung. Es gibt also große Unterschiede und die Bedarfe sind je nach Standort sehr unterschiedlich, von langfristigen Angeboten zur Integration bis hin zu notwendigen Überlebenshilfen an anderer Stelle.
Gibt es regionale Schwerpunkte, auf die sich die Hilfe von CARE konzentriert?
Zentilen: Aufgrund des Ausmaßes der Katastrophe haben wir zunächst versucht, über Partnerorganisationen möglichst flächendeckend zu arbeiten. Das ist uns auch gelungen. Das war unsere Strategie für die ersten sechs Monate. Und ich denke, das war sehr erfolgreich, wir haben es geschafft, viele Menschen dort zu erreichen, wo es nötig war. Jetzt wollen wir uns aber stärker regional konzentrieren. Das bedeutet, dass wir Winterhilfe mit Grundgütern wie warme Kleidung, Decken oder Kocher im Osten des Landes nah an die Kampflinien bringen. Im Westen des Landes werden wir uns dagegen auf die Überwinterung von Unterkünften konzentrieren, die zum Teil nicht dafür ausgelegt sind, im Winter von vielen Menschen bewohnt zu werden.
Wie können unsere Leser helfen? Was bewirkt eine Spende von 100 Euro?
Zentilen: Leider kann ich Ihnen kein konkretes Beispiel für genau 100 Euro nennen, aber mit 120 Euro können wir eine Familie einen Monat lang ernähren. Für 35 Euro können wir Hygiene-Sets anbieten, die Seife, Einwegrasierer, Damenbinden und andere Artikel des täglichen Lebens enthalten, die in Kriegszeiten möglicherweise nicht ohne weiteres verfügbar sind.
Haben Sie seit Kriegsausbruch Verletzungen im CARE-Team oder bei Hilfspartnern erlitten?
Zentilen: Humanitäre Helfer sind in der Ukraine gestorben, hauptsächlich im Osten des Landes. Leider war Mariupol ein solches Beispiel. Glücklicherweise waren sie weder unsere Partner noch CARE-Mitarbeiter. Die Sicherheit unserer Mitarbeiter ist uns sehr wichtig, wir nehmen Luftwarnungen ernst und lassen uns von Sicherheitsexperten beraten. Es gibt Schutzräume, in die sich unsere Kollegen zurückziehen können. Und speziell für unsere Partner im Osten des Landes gibt es ein an den Kriegsalltag angepasstes Sicherheitstraining.
Das kontinentale Klima in der Ukraine in Kombination mit der zerbombten Infrastruktur verspricht harte Monate. Worauf bereiten sich Ihre Mitarbeiter vor? Und was fehlt am meisten?
Zentilen: Im Osten des Landes fehlt es mittlerweile an fast allem. Was gerade passiert, ist gezielte Zerstörung, um das Leben im Winter noch schwieriger zu machen. Das bedeutet nicht nur, dass der Strom ausfällt, sondern auch, dass die Wasserversorgung manchmal zusammenbricht, weil sie mit Strom läuft. Es hat eine ganze Kaskade von Konsequenzen.
Die Regierung hat die Menschen im Osten aufgefordert, das Gebiet im Winter zu verlassen und nach Westen zu fahren. Sie haben Flüchtlingszentren definiert, wohin die Menschen im Westen gehen müssen. Wie das angenommen wird, bleibt abzuwarten. Es gibt viele, die das nicht können. Zusammen mit unseren Partnern helfen wir fast überall in der Ukraine. Im Osten erwarten uns die härtesten Winterbedingungen mit Temperaturen bis zu minus 25 Grad. Es geht um warme Kleidung, Decken und Heizmöglichkeiten. Wo möglich, wird es auch darum gehen, beschädigte Häuser zu reparieren und zu isolieren.
Dies ist der erste Winter unter diesen Bedingungen. Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende wäre, würden alle Wiederaufbauanstrengungen nicht ausreichen, um den Winter 2023 wieder unter normalen Bedingungen zu erleben. Das heißt, was wir hier tun, soll neben direkten Hilfslieferungen auch im kommenden Jahr Wirkung zeigen.
„20 % der ukrainischen Armee sind Frauen“
Warum ist es so wichtig, den Menschen vor Ort zu helfen? Diejenigen, die gar nicht gehen können oder wollen?
Zentilen: Sie müssen das Überleben während des Winters auf dem Gelände sicherstellen. Auch wir als Hilfsorganisation befinden uns vielleicht in einer schwierigen Situation. Da wir im Osten Hilfe anbieten, können dies auch Dinge sein, die die Entscheidung zum Weggehen oder Bleiben beeinflussen. Das bedeutet, dass wir auch Verantwortung übernehmen. Wir müssen sicher sein, dass wir diese Hilfe über den Winter aufrechterhalten können. Ansonsten sind die Menschen besser beraten, in den Westen des Landes zu gehen, wo wir versuchen werden, den Bau der Schreine zu verbessern.
Welche langfristigen Folgen sehen Sie für das Land? Was macht dieser Krieg mit Kindern, deren Eltern an der Front kämpfen und die mit fünf Jahren wissen, wie sie sich vor Bombenangriffen schützen können?
Zentilen: Es wird lange, lange dauern. Ich hatte einige Heime in Lemberg besucht, wo viel Kunsttherapie eingesetzt wurde. Hier findet eine wichtige Verarbeitung statt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass 20 Prozent der ukrainischen Armee jetzt Frauen sind. Unsere Mitarbeiter treffen auch auf Männer mit kleinen Kindern, deren Frauen an der Front starben und die sich nun in einer völlig neuen Rolle wiederfinden und sich zurechtfinden müssen. Erwachsene haben einen langen Weg zu gehen, um dies zu verstehen und zu verarbeiten. Wichtig wird auch sein, dass die Gesellschaft als solche zusammenhält, denn es gibt natürlich einen russischsprachigen Teil und einen ukrainischsprachigen Teil der Gesellschaft. Derzeit zerfällt es.
Kinder müssen Platz zum Verarbeiten haben, wie sie es zum Beispiel mit Farbe tun, sie brauchen viel Geduld und Zeit. Ich meine nicht nur die Kinder, die in der Ukraine sind. Das gilt auch für Familien, die hier in Deutschland sind, die noch Kontakt zu Verwandten in der Ukraine haben oder oft nicht wissen, wie es ihnen geht oder die Nachricht erhalten haben, dass wieder jemand gestorben ist, jemand verschwunden ist, das Haus geschlossen und zerstört ist. . All das sind Dinge, die über moderne Medien leicht rezipiert werden und dann weitere Unruhen auslösen.
In unserer angespannten Wirtschaftslage regen sich Populisten gegen Flüchtlinge auf. Stellt Deutschland einen weiteren Flüchtlingsrekord auf – und wenn ja, wie?
Zentilen: Die Hilfsbereitschaft, die von Anfang an da war, stimmt mich sehr optimistisch. Es war wirklich gigantisch, was da wieder geleistet wurde. Ich habe auch den Eindruck, dass die Integration sehr schnell vonstatten geht. CARE hat auch ein Hilfsprogramm in Deutschland, mit dem wir ukrainische Kinder dabei unterstützen, mit einem Startpaket zur Schule zu gehen, damit sie alles dabei haben, was sie brauchen. Und de facto ist es so: Diese ukrainischen Kinder gehen morgens in die deutsche Schule, und nachmittags haben sie digitalen Ukrainischunterricht, um den Schulabschluss in der Ukraine nachzuholen. Auch wir haben Wellen in diesem Krieg, Menschen kamen, Menschen gehen wieder zurück. Jetzt im Winter können mehr Menschen aus der Not herauskommen, aber sie werden auch wieder zurückgehen. Ich hoffe, dass etwas zusammenwächst, dass der Zusammenhalt hält.
“Vergiss andere Orte auf der Welt nicht”
Inwiefern verdrängt der Krieg in Europa andere große Krisen und Konflikte wie im Jemen oder in Ostafrika? Was steht uns noch bevor?
Zentilen: Der Krieg in der Ukraine war vielleicht nicht der Katalysator für eine Entwicklung, aber er war der Beschleuniger. Auf jeden Fall haben wir eine Verlängerung der Krisen und Konflikte: Syrien ist jetzt im zwölften Jahr und der Jemen im achten Jahr des Bürgerkriegs. Die Dürre am Horn von Afrika geht mittlerweile ins dritte Jahr. Die Zahl der Menschen auf der Flucht, der Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen, ist in den letzten Jahren enorm gestiegen – und damit auch die notwendigen Mittel.
Erstens hat der Ukraine-Krieg viel Aufmerksamkeit erregt, das stimmt. Andererseits hat sie dazu geführt, dass Lebensmittel teurer geworden sind. Den Kollegen im Libanon ging zum Beispiel nach Kriegsausbruch das Speiseöl aus – der Markt war leergekauft. Andere können plötzlich nicht mehr 5000 Menschen mit ihrem Budget unterstützen, sondern nur noch 4000 Menschen, weil die Mittel nicht mehr wachsen. Wir wissen bereits, dass es im nächsten Jahr weltweit 30 Prozent weniger Düngemittel geben wird, was sich auch auf die Ernte auswirken wird. Wichtig wird sein, dass wir neben all der Hilfe, die wir in der Ukraine leisten, auch daran denken, dass es Menschen in anderen Teilen der Welt gibt, die ebenfalls dringend Unterstützung zum Überleben brauchen.

In Kiew besuchte CARE-Generalsekretär Karl-Otto Zentel (r.) auch das Lager der Organisation BAPTA, die sich in der Hauptstadt vor allem um Obdachlose, Kranke und Behinderte sowie Flüchtlinge kümmert.

Am Bahnhof der kürzlich befreiten Stadt Cherson warten Menschen auf Züge, die sie nach Kiew bringen. An mehreren Steckdosen laden sie Handys auf, um während der Evakuierung mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben. – Foto: Svet Jacqueline/ZUMA Press Wire/dpa