Deutschland leidet unter Medikamentenknappheit | Die Tagespost

Der erstmals in den Kinderschuhen steckende russische Einmarsch in die Ukraine im Februar hat nicht nur die Außen-, sondern auch die Wirtschaftspolitik auf den Kopf gestellt – oder vielmehr auf den Kopf gestellt. Lange als anachronistisch im Sinne von Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“-Theorie betrachtet, sind geopolitische und geoökonomische Bedenken wieder allgegenwärtig. Gerade die Energiekrise hat vielen Menschen vor Augen geführt, warum globale Lieferketten mit Vorsicht, Zurückhaltung und Mäßigung behandelt werden sollten und warum zumindest grundlegende Versorgungskapazitäten in Europa nicht vollständig ersetzt werden können.

Dementsprechend waren manche Reaktionen auf den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz beim chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping gereizt. Die Debatten um kritische Abhängigkeiten von China zeigten jedoch zunehmend, dass Russland als Handelspartner mittlerweile völlig tabuisiert ist, China jedoch nicht – wenn auch mit Einschränkungen. Dass die geoökonomischen Risiken wirtschaftlicher Abhängigkeiten von China und anderen Drittstaaten reduziert werden müssen, ist fast schon zu einer buchstäblichen Binsenweisheit geworden – aber wie genau das geschehen soll, bleibt unklar.

Pharmahersteller meiden Deutschland

Dies gilt insbesondere auch für Suchterkrankungen in der pharmazeutischen Produktion. Welche konkreten Auswirkungen das haben kann, erlebte und erlebt Deutschland in diesem Winter noch immer: Schmerzmittel und Antibiotika, teilweise sogar Basismedikamente galten plötzlich als Mangelware. Anders als in Österreich, Frankreich oder gar China und Indien – wo 80 Prozent aller medizinischen Wirkstoffe und laut BfArM 60 Prozent der verschreibungspflichtigen, „versorgungsrelevanten“ Arzneimittel hergestellt werden – hat der Staat in Deutschland noch keine Ermöglichungsrolle gespielt und hat die subventionierte inländische Kapazität nicht erweitert. Wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kürzlich betonte, arbeitet die Bundesregierung „sehr intensiv“ an weiteren Schritten gegen Versorgungsengpässe – aktuell laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) – 391 Arzneimittel und bereitet ein entsprechendes vor Gesetz. Hier geht es aber vor allem darum, die Krankenkassen zu verpflichten, auch europäische Chargen zu kaufen und Lieferverfügbarkeiten in Rabattverträgen zu berücksichtigen. Zudem sprach der Gesundheitsminister von einer Pflicht zur „monatelangen Lagerung“.

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Dennoch dürften Rufe nach einem Ausbau der heimischen Produktionskapazität lauter werden. Außerdem zeigt sie Gespräche, die die „Tagespost“ mit verschiedenen Branchenvertretern geführt hat. Auf Nachfrage dieser Zeitung erklärt Leonie Heitmüller, Presse und Öffentlichkeitsarbeit beim Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH), dass die meisten Hersteller von pharmazeutischen Wirkstoffen und Zwischenprodukten in China und Indien angesiedelt sind. Aufgrund des Preisdrucks auf dem deutschen Arzneimittelmarkt sind viele Arzneimittelhersteller darauf angewiesen, Wirkstoffe aus Ländern zu beziehen, die billig produzieren. Die Industrie strebt jedoch eine Verringerung der Abhängigkeit an, um die Arzneimittelversorgung in Deutschland krisenfest zu gestalten. Dies kann laut Heitmüller aber nur gelingen, wenn zunächst die politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen für eine Diversifizierung der Lieferketten geschaffen werden. „Denn wir sehen jetzt, wie wichtig es ist, Alternativen zu haben, von der Wirkstoffversorgung bis zum fertigen Arzneimittel.

Schaffen Sie mehr Versorgungssicherheit

Diese Optionen führen zu mehr Kapazität und letztlich zu mehr Versorgungssicherheit.“ Auch die Politik müsse den Pharmastandort Deutschland durch beschleunigte Genehmigungsverfahren und Bürokratieabbau stärken: „Damit wird auch ein wichtiger Beitrag dazu geleistet, dass die noch in Deutschland oder der EU befindliche Produktion gar nicht erst abwandert, betont Heitmüller. Außerdem ist es wichtig, dass für Medikamente angemessene Preise bezahlt werden. “Unsere Branche braucht weniger Belastung und Regulierung, aber mehr Anreize.” Würden diese Rahmenbedingungen geschaffen, könne die Abhängigkeit von Drittstaaten außerhalb der EU mittel- und langfristig reduziert werden, so Heitmüller. Gleichzeitig werden Resilienz und Vielfalt in den Lieferketten den wichtigen Importen aus Drittländern nicht entgegenstehen.

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Auch Christian Splett, stellvertretender Pressesprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), betont gegenüber der „Tagespost“, dass die theoretische Verfügbarkeit von Medikamenten wenig nütze: Statt immer zu versuchen, die günstigsten Medikamente zu bekommen, sei sie wichtig. die große Ressource Versorgungssicherheit wieder stärker in den Fokus zu rücken. Allerdings muss dies auch mit einem Verständnis für die Anschaffungskosten einhergehen. Um Lieferengpässe zu bewältigen, brauchen Apotheken grundsätzlich mehr pharmazeutische Entscheidungsfreiheiten. Schließlich ist der Wechsel nicht verfügbarer gegen verfügbare Medikamente mit viel Bürokratie und Kosten verbunden – vor allem aufgrund der Vorgabe der Krankenkassen, die günstigere Medikamente bevorzugen, wie Splett erklärt. Konkret fordert ABDA, dass Apotheken künftig nicht nur für Kundenberatung und Bestandsführung belohnt werden, sondern auch für die Überwindung von Lieferengpässen.

Der Sparkurs der Politik fordert seinen Tribut

„Wir reden über viel Aufwand und müssen über die Vergütung nachdenken“, betont Splett. Um Lieferengpässe zu bewältigen, müssen Apotheker bei Arzneimittelherstellern und -großhändlern anrufen, Ärzte konsultieren und zusätzliche Rezepte im Labor erstellen. „Vielleicht beraten Sie mehrere Patienten oder betreuen nur einen Patienten, der von Versorgungsengpässen betroffen ist – und dieser Mehraufwand muss sich lohnen.“ Eine solche Kompensation für die Bewältigung von Lieferengpässen sieht Splett als eine der Einzelmaßnahmen, die die Politik angehen muss, bis die europäischen Kapazitäten in der Pharmaproduktion wieder erhöht werden können. Bisher hat die Politik jedoch im Zuge der Finanzialisierung des Gesundheitswesens eher Anreize zum Sparen geschaffen: Politiker, Krankenkassen und Arzneimittelhersteller haben auf Kosten der Flexibilität und Zuverlässigkeit globaler Lieferketten gespart. Splett betont gleichzeitig: „Kostendruck ist ein Systemphänomen. Alle haben gespart, aber am Ende fehlt es an Medikamenten.“

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Es braucht mehr Digitalisierung

Krankenhausapotheken hingegen können im Austausch für knappe Medikamente die Entscheidungsfreiheit demonstrieren, die öffentliche Apotheken wollen. Im Gespräch mit der „Tagespost“ erklärt ein Krankenhausapotheker, dass die fehlende Bindung an Rabattvereinbarungen des Gesetzgebers und der Krankenkassen ihnen eine größere Freiheit gibt, günstigere und zuverlässige Anbieter zu wählen. Darüber hinaus ist die Beratung zwischen Apothekern und Ärzten in Krankenhäusern in der Regel schneller und sie verfügen in der Regel über eigene Produktionskapazitäten. Die Lieferengpässe und das damit verbundene Einkaufsmanagement werden jedoch auch dazu führen, dass das Personal der Krankenhausapotheken mehr Zeit für das Supply Chain Management und die Suche nach Alternativen aufwenden muss. Probleme ergeben sich laut dem Krankenhausapotheker jedoch beim Übergang des Patienten von der stationären in die ambulante Behandlung. Wird Patienten beispielsweise im Krankenhaus ein Medikament verschrieben – wo die Versorgung durch größere Entscheidungsspielräume sicherer sein kann – muss auch sichergestellt sein, dass sie es auch außerhalb des Krankenhauses erhalten. Zudem werden Pläne zur Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht umgesetzt – nicht zuletzt, weil den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen der Wille fehlt, die Kommunikation zu digitalisieren und damit die Kommunikation zu vereinfachen, auch wenn darunter Produktivität und Versorgungsqualität leiden.

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